Aktuelles \\ 7. Oktober 2022

Seine Sprache und Stimme finden – Teil 3

Im ersten Teil des Interviews unserer Inhaberin Raphaela Steinbrügge mit dem Magazin radius/30 wurde darüber gesprochen, welche sprachlichen Auffälligkeiten behandlungsbedürftig und welche vielleicht „nur eine Phase“ sind. Im zweiten Teil ging es um die kleinen Patienten und in diesem dritten Teil stehen die erwachsenen Patienten im Mittelpunkt. Was sind die häufigsten Therapien und welche Patienten sind in Erinnerung geblieben?

Ihr ältester Patient war 102. Wie können Sie Erwachsenen helfen?

Wir betreuen häufig Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfällen, Demenz, Schluckbeschwerden, degenerativen Erkrankungen wie ALS, MS oder Parkinson, nach Unfällen oder mit Problemen bei der Atmung oder Nahrungsaufnahme. Erwachsene kommen oft zu uns, wenn sie in einem Beruf mit hoher Sprechintensität arbeiten und sie etwas an ihrem Sprechen stört. Oder wenn nach Schilddrüsen-OPs die Stimme heiser klingt und sie unter einem Räusperzwang leiden. Und junge Erwachsene kommen oft im Anschluss an eine kieferorthopädische Behandlung, wenn beispielsweise der Kieferorthopäde feststellt, dass ein sogenanntes frühkindliches Schluckmuster vorliegt. Dabei stößt die Zunge beim Schlucken an die vorderen Zähne. Ein Mensch schluckt durchschnittlich 2.000 Mal am Tag. Wenn dabei jedes Mal die Zunge an die Zähne stößt, kann das durchaus den Erfolg einer kieferorthopädischen Behandlung im Verlauf der Jahre gefährden. Aber nicht immer sind solche Phänomene behandlungsbedürftig: Wenn es keine Schwierigkeiten macht, muss man auch nichts therapieren. Manche sprachlichen Eigenheiten sind kulturell bedingt wie zum Beispiel die Zungenruhelage, also wie weit vorne oder hinten am Gaumen die Zunge „geparkt“ wird, wenn man nicht spricht. Das unterscheidet sich je nach Kulturkreis und Bildung der Laute. Oder zurück zum Thema Lispeln: Das ist in manchen Sprachen – wie dem Spanischen oder Englisch – völlig normal. Manche Menschen kommen aber auch zu uns, um solche sprachlichen Eigenheiten wie Dialekte oder Akzente loszuwerden, weil sie schwer zu verstehen sind oder es ihnen einfach nicht mehr gefällt.

Bei der Stimmtherapie behandeln wir zunehmend Stimmveränderungen bei Menschen, die transident sind. Da sind Menschen dabei, die von Kind an wussten, dass sie im falschen Körper geboren sind, aber auch welche, die das erst mit 50 festgestellt haben. Wir unterstützen sie dabei, ihre eigene Stimme zu finden.

Gibt es Patienten, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind? Da gibt es zahlreiche Therapieverläufe.

Das Schöne ist, dass wir – im Gegensatz zu medizinischen Kollegen, die im Krankenhaus arbeiten – unsere Patienten oft über einen sehr langen Zeitraum begleiten und ganze Entwicklungsverläufe erleben können. Patienten, die nicht essen oder trinken konnten und das wieder erlernen, bleiben mir in Erinnerung, weil sie so viel Lebensqualität zurückerhalten haben. Es gibt aber nicht immer ein Happy End, Therapie bedeutet zwar häufig eine Verbesserung, manchmal ist es aber auch nur noch ein Erhalt von Fähigkeiten. Ein kleines Mädchen mit Migrationshintergrund blieb mir auch besonders in Erinnerung: Als sie kam, konnte sie nur ihren Namen sagen. Ich wollte ihr mit der Sprache eine Perspektive außerhalb ihrer kulturellen Traditionen und des traditionellen Frauenbilds geben. Sie war sehr aufgeweckt und konnte erfolgreich die Schule abschließen. Das gibt auch oft der ganzen Familie eine andere Perspektive, wenn sie sehen, dass auch junge Frauen ihrer Familie erfolgreich sind.

Die Mutter eines Jungen nahm vor einiger Zeit mit mir Kontakt auf, der bei uns zur Hörtherapie war. Er sollte von der Real- auf die Hauptschule versetzt werden. Jetzt hat er sein Abitur erfolgreich bestanden. Das sind natürlich tolle Erfolge für uns.